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Welche Steine werden Frauen auf dem Weg in die Selbstständigkeit gelegt?

#StopUngleichheit

05.08.2018 |





#StopUngleichheit
Die Weiberwirtschaft zu SDG 9- Industrie, Innovation und Infrastruktur nachhaltig für Alle fördern


Frau Dr. Katja von der Bey, Vorstand WeiberWirtschaft eG.            
Fotografin: Anke Großklaß.


Mit SDG 9 sollen Innovationen unterst
ützt und eine nachhaltige Infrastruktur mit gleichberechtigem Zugang für alle aufgebaut werden. Seit den 80er Jahren unterstützt die WeiberWirtschaft eG Frauen bei der Existenzgründung. Wie kam es dazu?

In den 80er Jahren führten drei Frauen eine wissenschaftliche Studie in Berlin durch und fanden heraus, dass Frauen schwierigere Startbedingungen bei dem Weg in die Selbstständigkeit haben, weil bestehende Gründer- und Technologiezentren bzgl. Branche, Räume und Infrastruktur überhaupt nicht auf diese Zielgruppe zugeschnitten sind. Trotz des Weges zur Politik und der Forderung nach Gründerinnenzentren, bekamen sie aufgrund von ‚Ressourcenknappheit’ kein Gehör. Der fehlende politische Wille führte letztlich zur ‚Selbsthilfe’. Und somit begann die Projektentwicklung für ein eigenes Gründerinnenunternehmen mit partizipativen Strukturen, die im Jahr 1989 zur Geburtsstunde der WeiberWirtschaft eG in Berlin Mitte führte, ganz nach dem Motto ‚von Frauen für Frauen’.

Wieso gehen Frauen den Schritt in die Selbstständigkeit?

Die Zahl der selbstständigen Frauen steigt. Wir haben die am besten ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten, die ihre Bildung auch verwerten möchte, als Angestellte oder Selbstständige. Viele Frauen gehen in die Selbstständigkeit, weil sie ihre Bildung als Angestellte jedoch nicht verwerten können, weil Aufstiegschancen begrenzt sind oder weil sie nach einer Familienpause ihren Job verlieren... Die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf kann in der Selbstständigkeit besser sein, und diese Zeitsouveränität bringt Frauen oft in die Gründung. Statistisch gesehen, haben Unternehmerinnen sogar mehr Kinder.

‚Welche’ Frauen entscheiden sich für die Selbstständigkeit?

Das ist querbeet gemischt. Laut Statistiken machen sich vor allem 35 bis 45-Jährige selbstständig, nachdem sie gewisse Berufserfahrung haben. Aber auch Frauen im Alter von 20 Jahren oder aber Frauen, deren Rente nicht ausreicht, probieren den Schritt in die Selbstständigkeit. Generell gründen viele Menschen mit einem akademischen Abschluss, wobei sich bei uns auch Frauen aus allen sozialen Klassen für die Selbstständigkeit entscheiden. Ganz typisch für Berlin haben ca. ¼ der Unternehmerinnen einen Migrationshintergrund.  
 

Mit welchen Schwierigkeiten sehen sich Frauen noch heute bei der Existenzgründung konfrontiert? 

Statistisch gesehen, gründen Frauen in anderen Branchen als Männer. Bsp. sind sie weniger in den MINT-Bereichen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) aktiv, sondern bieten oft sozial-kulturelle Dienstleistungen an und gründen eher in Bereichen der Kreativ- und Gesundheitswirtschaft. Das sind allerdings nicht die Lieblingsförderprojekte der Wirtschaftsförderprogramme von Land, Kommune und Bund, welche auf technische Innovationen anstatt auf bspw. gesellschaftliche Innovationen zugeschnitten sind.

Dazu kommen ungerechte Sozialversicherungs- und Steuersysteme mit typisch strukturellen Benachteiligungen für Frauen, weil sie mehr Familienverantwortung übernehmen. Bspw. sind Frauen während der Familienpause häufig kostenlos bei der Krankenkasse ihrer Partner mitversichert. Wenn sie sich jedoch selbstständig machen wollen und bestimmte Einkommensgrenzen überschreiten, müssen sie sich zu einer Versicherungssumme von 500€ pro Monat versichern. Um dem zu entgehen, bleiben Frauen in Nebenerwerbstätigkeit künstlich klein. Laut Koalitionsvertrag soll der Betrag in der Gründungsphase halbiert werden, aber das ist noch nicht umgesetzt.

Frauen gründen auch kleinere Unternehmen mit weniger Investitionsbedarf. Doch leider ist es schwieriger, weniger Geld zu bekommen als viel Geld. Die Ironie geht damit weiter, dass Frauen aber viel nachhaltiger gründen und weniger Geld und Unternehmensideen in den Sand setzen. Zudem gründen sie eher Unternehmen, um gute und faire Arbeitsplätze zu schaffen, gute Produkte und Dienstleistungen in die Welt zu bringen und nicht aus Gründen des reinen Profitdenkens. Trotzdem werden sie benachteiligt.

Wie unterstützen Sie Frauen auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit?

Wirtschaftsförderprogramme und Bedarfe der Frauen klaffen ganz klar aufeinander, und dadurch müssen wir selber aktiv werden, Frauen unterstützen und weiterhin an die Politik appellieren. Da bei unserem großen Gewerbehof 65 Unternehmen angesiedelt sind, generieren wir auch eine Sichtbarkeit für das Thema der Geschlechtergerechtigkeit, die eine wichtige Basis bildet, um Lobbyarbeit für diese Frauen in der Selbstständigkeit zu betreiben.

Wir sind inzwischen auch mehr als nur eine Genossenschaft, die Räume im eigenen Gewerbehof vermietet. Wir haben 2006 eine Tochterorganisation, unsere Gründerinnenzentrale, ausgegründet. Das ist eine Erstanlaufstelle für Frauen, die sich selbstständig machen, und von Orientierungsberatung, Vernetzungsangeboten, Peer-Coaching, Mentoring-Programmen, Kooperationen sowie der Weitervermittlung an andere Initiativen in Berlin profitieren.

2013 haben wir gemeinsam mit Goldrausch e.V. ein Mikrokreditprogramm unter dem Dach des staatlichen Mikrokreditfonds gestartet, um Mikrokredite für unsere Mitglieder anzubieten. Wir haben auch mit LIFE e.V. eine Checkliste für Nachhaltiges Gründen herausgegeben und bauen immer wieder unsere Angebote aus. 

Drei Beispiele für ressourcenschonende und soziale Frauenunternehmen sind das Modelabel Jordan, Fräulein Burger und velo:konzept, mit deren Gründerinnen auch ein Video zum Thema Nachhaltiges Wirtschaften gedreht wurde.

Was braucht es politisch, um den Weg zur Selbstständigkeit auch für Frauen zu erleichtern?

Die Zahl der Selbstständigen steigt, vor allem im Rahmen der prekären Selbstständigkeit. Immer mehr Menschen, hauptsächlich Frauen, sind Klein-Selbständige ohne soziale Absicherung, weil es für Unternehmen bequem ist, sozialversicherungspflichtige Arbeit in die Selbstständigkeit auszulagern. Ein Beispiel hierfür ist der Extremfall ‚Helpling’ – eine Organisation, bei der nur Selbstständige arbeiten, hauptsächlich weit unter dem Mindestlohn. Und das trifft besonders Frauen, die von der Hand in den Mund leben, keine Altersvorsorge aufbauen können und in die Armut rutschen. Das ist die Kehrseite der nomadischen Selbstständigkeit, doch darauf gibt es keine politische Antwort. 

Das Design der Förderprogramme für Selbstständigkeit richtet sich nach der aktuellen wirtschaftlichen Effektivität, d.h. wie schaffe ich am meisten BSP, Arbeitsplätze, und technische Innovation, statt zu schauen, wie Menschen sinnvoll ihre Qualifikation verwerten können. Der Mikrokreditfonds der Bundesregierung ist beim Arbeits- und nicht Wirtschaftsministerium angesiedelt – es wird also eher geschaut, dass man Langzeitarbeitslose in die Selbstständigkeit bekommt, aber nicht wie man wirtschaftliche Vielfältigkeit unterstützt. Wir sprechen manchmal mit dem Bundeswirtschaftsministerium darüber, wem die Förderprogramme zugutekommen, aber das sind Betonbretter, da gibt es wenig Verständnis.  

Das Thema ‚Gender’ ist wirklich Kernproblem und zugleich Schlüssel zu vielen Diskussionen. Eine wichtige Frage ist bspw. wo liegen die Grenzen zwischen Sorge- und Erwerbstätigkeit und was ist Arbeit überhaupt – warum kann Arbeit nicht auch Sorgetätigkeit sein? Denn da haben Frauen immer die schlechteren Karten, sowohl als Selbstständige wie auch als Arbeitnehmerinnen. Das ist eine gesellschaftspolitische Debatte, die bisher nicht geführt oder gar verstanden wird. Die Anerkennung von bspw. Sorgetätigkeiten als Arbeit, würde Berufe aufwerten, in denen Frauen oft auch selbstständig sind, auch finanziell so dass Frauen zumindest eine Chance haben, eine Altersvorsorge aufzubauen. Und das ist die Grunddebatte, die sich nur schwer mit anderen Sachen wie Förderprogrammen flicken lässt (die aber trotzdem unbedingt da sein sollten damit Frauen auch ihre Qualifikationen nutzen können). Mein Wunsch wäre, wenn es weg vom Frauenthema und hin zum Menschenthema wird. 

Nutzen Sie die 17 Nachhaltigkeitsziele in Ihren Aktivitäten?

Da wir schon vor so langer Zeit mit der Nachhaltigkeit begonnen haben, konnte die Agenda 2030 uns keine neuen Impulse geben. Allerdings finden wir es gut, dass unsere Ideen jetzt auch im Mainstream angekommen sind. Wir erhalten größere öffentliche Wahrnehmung unserer Themen, z.B. mehr Nachfrage an Führungen durch unser ökologisch ausgerichtetes Gründerinnenzentrum. Die Frauen, die zu uns kommen, setzen sich automatisch mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinander, weil wir es hier leben – das kommt nicht nur uns zugute, sondern auch den Gründerinnen.

Was können wir als Bürger*innen noch tun, damit Frauen eine höhere Anerkennung in der Wirtschaftswelt erfahren?

Es gibt sehr viele Initiativen, die durch digitale Möglichkeiten sehr gut erreichbar sind und Vernetzungsmöglichkeiten bieten. Wir empfehlen: mitzudiskutieren, sich für bessere Rahmenbedingungen einzusetzen, die Politik in die Pflicht zu nehmen, Europa zu stärken und am Ende ganz dringend wählen zu gehen; und bestimmte Forderungen zu unterstützen, die Frauenorganisationen bundesweit stellen.

Hier finden Sie das Interview im PDF Format.

Die Kampagne #StopUngleichheit wird von der Europäischen Union finanziell unterstützt. Die inhaltliche Ausrichtung liegt jedoch in der alleinigen Verantwortung von WECF e.V., sie gibt unter keinen Umständen die Positionen der Europäischen Union wieder.

  


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