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Klimagerechtigkeit braucht Geschlechtergerechtigkeit

Was hat Geschlechtergerechtigkeit mit Klimawandel und Klimapolitik in Deutschland und darüber hinaus zu tun?

15.08.2018 |




WECF  über den Zusammenhang zwischen SDG 13 (Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen) und SDG 5 (Geschlechtergleichheit)

Mit dem steigenden Handlungsdruck in der Klimapolitik und entsprechend ambitionierteren Zielsetzungen wächst auch die Einsicht, dass die Menschen – und damit auch soziale und geschlechtsbedingte Ungleichheiten – stärker in den Blick rücken müssen. Die Folgen der Erderwärmung treffen Frauen und Männer unterschiedlich und verstärken bestehende Diskriminierung – im Globalen Süden, aber auch im Globalen Norden. Im November 2017 wurde auf der Weltklimakonferenz COP23 mit der Verabschiedung des Gender-Aktionsplan (GAP) ein wichtiges Zeichen gesetzt. Ziel des GAPs ist es, den Anteil der Frauen in Entscheidungsforen des Klimaprozesses zu erhöhen, Politiker*innen über die Gleichstellung von Frauen und Männern in Klimafinanzierungsprogrammen zu schulen sowie Frauenorganisationen für lokale und globale Klimaschutzmaßnahmen zu gewinnen. Die Vertragsstaaten sollen zudem geschlechtsspezifische Daten erheben sowie ihre Klimapolitik einer systematischen Genderanalyse unterziehen.

Denn noch immer fließen nur 0,01% der gesamten Klimafinanzierung in geschlechtergerechte Klimalösungen, und nach wie vor sind Frauen mit weniger als 30% in der Leitung der Regierungsdelegationen vertreten. Und das, obwohl längst bekannt ist, dass der Klimawandel nicht geschlechtsneutral ist. Frauen haben in vielen Gesellschaften weniger Entscheidungsmacht und Ressourcen wie Zugang zu Finanzmitteln, Eigentum, Technologie und Bildung. In armen Ländern zwingen die Folgen des Klimawandels Frauen und Mädchen immer längere und beschwerlichere Arbeit auf, um ihre Felder zu bewirtschaften oder den Haushalt mit Energie und Wasser zu versorgen.  Auch in Deutschland sind Frauen weiterhin schlechter gestellt, wenn es um politische Entscheidungsmacht, Einkommen oder Verteilung der Familienarbeit geht. Diese ‚Genderrollen’ prägen ihren Umgang mit Umwelt und Klima.

Dass Risiken, egal ob wirtschaftlicher oder ökologischer Herkunft, am wenigsten von den sozial und wirtschaftlich schwächsten Gliedern der Gesellschaft abgefedert werden können, sollte keinen mehr überraschen. Dass in Deutschland die Ungerechtigkeit zwischen Frauen und Männern im Hinblick auf Ressourcenzugang, Einflussnahme und Teilhabe weiterhin toleriert wird, jedoch schon. ‚Genderrollen’, durch welche die Versorgungs- und Hausarbeit mehr von Frauen übernommen werden, sind noch immer präsent. In Deutschland wenden Frauen mit 4 Stunden, 13 Minuten im Durchschnitt immer noch deutlich mehr Zeit für diese Arbeiten auf als Männer mit 2 Stunden, 46 Minuten. Bei den reinen Sorgetätigkeiten, etwa für Kinder, Ältere, Nachbarn oder Flüchtlinge, ist der Unterschied sogar noch größer. Täglich leisten Frauen 52% mehr unbezahlte Sorgetätigkeiten als Männer. Dadurch sind sie in ihrer Mobilität und wirtschaftlichen und sozialen Entfaltung eingeschränkt; ‚Genderrollen’ erlauben, dass Frauen für die gleichen Jobpositionen und Tätigkeiten im Durchschnitt 22% weniger Gehalt als Männer erhalten, dass ein 30:70 Anteil der Frauen gegenüber Männern in Führungspositionen toleriert wird und dass Frauen im Vergleich zu Männern stärker in alle Formen der Armut (bspw. Energiearmut, Altersarmut) getrieben werden. Für eine nachhaltige Entwicklung im umfassenden Sinne des Wortes und zum Wohle der gesamten Gesellschaft müssen diese ‚Genderrollen’ der Vergangenheit angehören. 

Was heißt das für die Klimapolitik und den Klimaschutz? Der öffentliche Nahverkehr muss so ausgelegt sein, dass den Mobilitätsbedarfen für die Versorgungsarbeit Rechnung getragen wird. Wer Kinder oder Ältere betreut, legt kompliziertere Wegstrecken zurück als Menschen, die zur Arbeit pendeln. Wer mit Kinderwagen oder Rollstuhl unterwegs ist, braucht Raum und Barrierefreiheit. Wer einkauft und die Hausarbeit macht, trifft täglich viele klimarelevante Entscheidungen, die sich trotz Umweltbewusstsein oftmals am Einkommen orientieren. Denn, biologisch-angebaute Produkte sind oft teurer und dafür sind oft zusätzliche und längere Wege zurückzulegen. Klimapolitisch bedingte Mehrkosten treffen vor allem Geringverdienende, demnach hauptsächlich Frauen – die häufiger als Männer als Alleinerziehende täglich „Multitasking“-Herausforderungen bewältigen müssen. Statt in Energieeffizienz und erneuerbare Energien investieren zu können, kämpfen die unteren Einkommensgruppen eher mit Energiearmut. Im Gegensatz dazu, kommen Fördermittel für Energiemaßnahmen häufig Eigenheimbesitzern zugute, die eher über Mittelschichtseinkommen verfügen. 

Demnach sind Frauen aufgrund von Vielfachbelastung wie Erwerbsarbeit, Sorgetätigkeiten und Hausarbeiten bei einem durchschnittlich geringeren Einkommen als Männer eher betroffen und zugleich weniger in politische Entscheidungen eingebunden. Diesen negativen Effekten einer gender-blinden Nachhaltigkeitspolitik muss bewusst gegengesteuert werden – durch gendersensible Maßnahmen in allen Politikbereichen, wie z.B. Gender-Budgeting und Instrumente zur Wirkungs- und Verteilungstransparenz. Dies gilt ganz besonders für die kommunale Ebene, wo Klimapolitik konkret wird und dem Alltag und Bedürfnissen aller Menschen gerecht werden muss.

Denn viele Umfragen zeigen: Frauen sind im Durchschnitt umweltfreundlicher eingestellt als Männer, und Frauen sind meist auch häufiger bereit, sich aktiv für den Schutz der Umwelt einzusetzen. Dabei können aber auch geschlechterspezifische Einkommensunterschiede eine Rolle spielen. Auch, aber nicht nur wegen ihres durchschnittlich geringeren Einkommens sind Frauen weniger auto- und dafür mehr klimafreundlich mobil. Während Frauen, wie auch bei anderen Konsumentscheidungen, meist mehr auf Umweltaspekte achten, bewerten Männer z. B. beim Autokauf Faktoren wie Komfort, Design oder Innovationen durchschnittlich höher als Wirtschaftlichkeit und Spritverbrauch. Sie erwarten häufig mehr von technischen Lösungen, während Frauen im Schnitt eher auf Verhaltensänderungen setzen. Solche Unterschiede gelten selbstverständlich nicht für alle Frauen bzw. Männer gleichermaßen. Dennoch sind diese ‚Genderrollen’ vorhanden, sie sind tief in unsere Gesellschaft eingebettet – auch in urbanen Strukturen.

Dazu kommt, dass sich soziale Kategorien wie Geschlecht, Alter, Einkommen oder Bildung miteinander verschränken, so dass sich Effekte zum Teil kompensieren, häufig aber auch verstärken können. Auch im einkommensreichen, angeblich aufgeklärten Deutschland kann eine Person schon allein dadurch benachteiligt sein, weil sie eine Frau ist. Aber die ‚volle Wucht’ der möglichen Benachteiligungen kann erfahren werden, wenn hohes Alter, geringes Bildungsniveau und niedriges Einkommen hinzutreten. Gerade auf kommunaler Ebene sollte die Klimapolitik deshalb Benachteiligung und auch Privilegien erkennen und Wege finden, mit dem Schutz des Klimas zugleich sozialer Ungleichheit und Diskriminierung zu begegnen. 
 

Kommunale Ebene

Kommunen übernehmen eine wichtige Rolle in der Umsetzung der Klimaziele. Eine klimaneutrale Stadt kann nur über einen tiefgreifenden Transformationsprozess erreicht werden, der alle Facetten einbeziehen muss, also nicht nur materielle oder ökonomische, sondern auch gesellschaftliche und geschlechterspezifische Aspekte. In der „New Urban Agenda“, dem globalen Fahrplan für nachhaltige Stadtentwicklung der UN-Habitat, wird zu Recht die Rolle von Geschlechtergerechtigkeit bei Planungen und Maßnahmen in allen Bereichen urbaner Nachhaltigkeit betont. Die 2016 beschlossene „Agenda“ fordert von den Städten „nachhaltige, den Menschen in den Mittelpunkt stellende, alters- und geschlechtergerechte und integrierte Konzepte der Stadt- und Raumentwicklung zu beschließen“. Deshalb sollten Planungen, etwa auf Quartiersebene, gendersensibel durchgeführt werden. Dabei wird in allen Planungsschritten systematisch nach den geschlechts-, alters- und gruppenspezifischen Bedarfen, Interessen und Auswirkungen gefragt. 

Dies ist wichtig, aber nicht ausreichend: Klimapolitische Maßnahmen müssen so priorisiert und ausgestaltet werden, dass sie soziale oder geschlechtsbedingte Benachteiligungen nicht verstärken. Stattdessen müssen auch die positiven Effekte der Klimaschutzmaßnahmen – z. B. geringere Energiekosten, weniger Luftverschmutzung und Lärm oder das Schaffen von Jobs – maximiert und gerechter verteilt werden. 

Die „autogerechte Stadt“ prägte den Städtebau der 1950er/1960er Jahre und muss heute schrittweise abgebaut und umdefiniert werden. Eine geschlechtergerechtere Stadt würde demgegenüber auch den Bedürfnissen und Mobilitätsmustern, die sich aus der Versorgungsarbeit ergeben, gleichgewichtig Raum geben. Auf allen Ebenen und auch auf kommunaler Ebene sind Männer bei klimarelevanten Entscheidungen meist überrepräsentiert. Schlüsselbereiche wie Energie- und Wasserversorgung und Verkehr sind sowohl in den Unternehmen, bei der Planung als auch in der Umsetzung, etwa in der Energieberatung oder in einschlägigen handwerklichen Berufsfeldern, stark männerdominiert. Daher müssen bei kommunalen Klimaschutzplänen und Beteiligungsverfahren Frauen, Männer, Familien, etc. gleichermaßen angesprochen und eingebunden werden. Bei der Erstellung von Klimaschutzplänen sind Themen wie geschlechtsspezifische Konsummuster, Zuständigkeit für Versorgungsarbeit und Gender-Budgeting zu berücksichtigen. 

Es gibt sie, die positiven Beispiele! 

Einige Städte haben hier bereits Konzepte entwickelt und auch dokumentiert. Potsdam setzt beim „Masterplan 100% Klimaschutz – Potsdam 2050“ auf soziale Balance und Geschlechtergerechtigkeit. Grafik 1 veranschaulicht die Geschlechterdimensionen, die im Potsdamer Klimaschutzplan berücksichtigt werden, zum Beispiel „Betroffenheit hinsichtlich sozialer/ökonomischer Nebeneffekte klimapolitischer Maßnahmen“. Die Stadt Wien hat eine Vielzahl quartiersbezogener gendersensibler Planungsprozesse durchgeführt und v.a. das Beispiel Wien Meidling zeigt eindrucksvoll, wie geschlechtergerechte Maßnahmen bei der kommunalen Stadtentwicklung umgesetzt werden und breite Akzeptanz finden.  

Grafik 1: Geschlechterdimensionen der Klimapolitik
Quelle: Gutachten zum Masterplan 100% Klimaschutz Potsdam

Für ganz Österreich wurde das Planungshandbuch „living_gender“ erarbeitet, das Projektentwickler*innen und Planer*innen dabei unterstützt, gender- und diversitätsgerechten Wohnungsbau in die Praxis umzusetzen. Diese Beispiele zeigen, wie Kommunen bei Klimaschutzplänen materielle, ökonomische und gesellschaftliche Aspekte berücksichtigen und bei der Umsetzung ihrer Klimaziele erfolgreich agieren sowie die Akzeptanz der Bürger*innen hierfür haben. 

Grafik 2: living gender, Quelle: Planungshandbuch living_gender

 

Hintergrundinformationen

WECF – Women Engage for a Common Future ist ein internationales Netzwerk von mehr als 150 Frauen- und Umweltorganisationen in 50 Ländern, das sich für die Gleichstellung der Geschlechter und eine nachhaltige Welt einsetzt. Als Gründungsmitglied der Women and Gender Constituency des UNFCCC und offizieller Partner des UN Umweltprogramms UNEP implementiert WECF in den Bereichen Klima und Gender Politiken, die eng miteinander verzahnt sind und stärkt die Kapazitäten von Frauen durch Klimaprojekte vor Ort.

Katharina Habersbrunner ist bei WECF im Bereich Energie & Klima tätig. Sie ist Expertin für dezentrale, erneuerbare und geschlechtergerechte Klimalösungen. Zu ihren Aufgaben gehört die Entwicklung von und Schulung für Finanzierungsmodellen für erneuerbare Energie und Energieeffizienz-Projekte sowie deren politische Vertretung auf nationaler, internationaler und UN-Ebene. Kontakt: katharina.habersbrunner@wecf.org

Anja Rühlemann ist bei WECF im Bereich Energie & Nachhaltige Entwicklung tätig. Sie arbeitet an der Bekanntmachung und geschlechtergerechten Umsetzung der Agenda 2030 auf allen politischen Ebenen sowie an dezentralen, erneuerbaren und geschlechtergerechten Klimalösungen. 
Kontakt: anja.ruehlemann@wecf.org


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